Digitale Schnitte

Oder warum politisches Netz/Aether-Radio in Wirklichkeit ein Friseursalon ist

Ralf Homann

Die Schere klappert und mit jedem Schnitt kommt die Bedeutungsproduktion voran. Raffinierte Codes und relative Identitaeten. Sie werden mit Festiger befestigt oder mit Seife hinweggeschwemmt. Als Akt irgendeiner Reinigung verschwinden alte Zoepfe und werden neue Persönlichkeiten ausprobiert. Faerbungen und Uebergaenge sind möglich, selbst der Standardschnitt ist eine erneute Mischung. Fälschungen sind immer das Original und Kopien individuell. Der Kopf haelt das widerspenstige und schwierige Material zusammen und traegt es in die Ferne. Alles wird begleitet von einer unbegrenzten Menge an Tratsch und Geschichten, die die Welt bedeuten. Der Friseursalon ist das Protostudio jeder Radiosendung. Die Minimalausstattung aus Stuhl, Schere, Spiegel, Plattenspieler, Mikro und Sender. Ein paar abgegriffene Zeitungen, Telefon und Rechner. Ein grosses Radiogeraet. Und das Schoene daran: Waehrend das Radiogeraet spielt, wird geredet und gedacht, Zeitung gelesen, gesurft und gesendet. Auch der Friseur und die Friseuse schneiden weiter. Alles geschieht gleichzeitig. Es ist ein konzentriertes Nebenbeiarbeiten und Nebenbeihoeren, das nichts verhindert und mehr ermoeglicht bei ueberschaubarem Risiko: Niemand wuerde sich freiwillig rasieren lassen, wenn der Mann am Messer sich statt auf das Gesicht, auf ein stroemendes Bild konzentrieren muesste. Das Radiogeraet im Hintergrund hingegen ist ein so beruhigendes Geraeusch wie das sanfte Klappern der Schere.

WebTV ist Verzweiflung, WebRadio keine Dauerwelle

Nichts ist langweiliger als das Trocknen einer Dauerwelle. Das Rauschen des Foens, das jedes Gespraech unterbindet, die Haube, die jede koerperliche Bewegung verbietet, das alles wirkt wie eine Schlaftablette. Die Steigerung ist das TV-Set. Schon laenger rettet sich das Fernsehen in Programme, die auch ohne Fernsehen spannend sind, weil das Medium selbst nichts mehr zu bieten hat. Der grosse Renner sind Fernsehprogramme, die bei geschlossenem Auge funktionieren oder deren Ereignisse nachgelesen werden koennen. Das Fernsehen verwandelt sich in ein Audioprogramm mit Trash-Hoerspielen. Der letzte Verzweiflungsakt ist die Fusion mit dem Internet. Es ist das Verhaeltnis von Trockenhaube zu Lockenwickler. Ist das Wickeln ein interaktiver koerperlicher Akt, jede Rolle ein neuer Mausclick, der erneute Aufmerksamkeit fordert, wird das WebTV den Monitor in ein dekoratives Poster verwandeln, das einsam in der Ecke klebt und nichts mehr gemein hat mit dem irritierenden Blick in den Frisierspiegel. Das Radiogeraet im Haarspray-Regal hat es da viel leichter. Es beansprucht keine Aufmerksamkeit, kann es sich leisten irgendwo zu sein und bei Bedarf passt der Sound zu jeder Frisur.

Die Aesthetik des Wartens

Wenn der letzte Wartende durchs Ziel geht, hat der Friseursalon gewonnen. Deshalb ist die Gestaltung des weltweiten Wartens nirgendwo so schoen wie hier. Waehrend das Warten der Logik nachrueckender Paeckchen folgt, ist die Kommunikation im Warten immer gleichzeitig. Das Hinundherspringen, der schnelle Wechsel, das Ergaenzen und Neuvermischen der Erzaehlungen und Anekdoten generiert erst ihren Sinn. Verzoegerungen bilden Schlaufen und Uebertragungsrisse spannende Rhythmen, die durch das Surfen zwischen Warteschlangen noch gesteigert werden koennen. Wer zu spaet kommt, den bereichert die Geschichte. Deshalb bleiben laengst friesierte Gaeste nur noch der Schoenheit des Wartens willen, weil die Geschichten unentwegt stroemen. Wenn das Reden stockt und keinen ausreichenden Puffer mehr hat, dann können sich die Augen immer noch im Tanz des Friseurs um den Frisierstuhl weiden oder
Spass haben an den Augen anderer.

Das Verschwinden des moralischen Mediums

Im Friseursalon koennen die kluegsten, wichtigsten wie duemmsten Erkenntnisse ohne Risiko verbreitet werden. Die Entscheidung über den Wert der Information ist eigene Freiheit. Eine Tatsache, die gerade in wortglaeubigen Regionen nicht hoch genug eingeschaetzt werden kann. Dort ist der Konsum im allgemeinen und der Mediengebrauch im Besonderen eine Frage von Moral und Autoritaet, die Medien mit Gottesdiensten verwechselt und den falschen Ritus unentschuldbar macht. Die im Friseursalon gewonnene Information hingegen ist immer im Range der Busse, denn das Subjekt findet dort zu seiner Muendigkeit. Die Angabe: "Beim Friseur habe ich erfahren, dass....." ist die Information vor der Information. Individuelle Wahrheiten, dreiste Luegen und ungeklaerte Verhaeltnisse koennen auf ihre Tauglichkeit ueberprueft werden. Der Friseursalon bezieht seine Glaubwuerdigkeit, in dem er die Inszenierung des Privaten oeffentlich macht. Im Gegensatz zu einem Club braucht er dazu weder einen Tuersteher, noch ein anderes Verfahren der territorialen Ein- oder Ausgrenzung. Der Spannungsbogen entsteht aus dem Gefuehl eines begrenzten Abenteuers bei dem Neugierde und Schadenfreude nicht vertuscht werden muessen. Auch das Dementi ist einfach und erfordert zur Not eine Muetze.

Der informelle Radio-Salon

Ort und Zeit eines Radio-Salons sind Sache der Verabredung, Wanderschaft ist moeglich, das Gepaeck gering. Damit naehert er sich den letzten Helden, die bekanntlich ganz ohne Gepaeck auskommen. Handwerkszeug und -regeln sind zweitrangig, denn die Qualitaet der Arbeit ist abhaengig vom Mut der Bearbeiteten. Mobile Salons koennen dort eingesetzt werden, wo angenehme Kommunikation erforderlich ist: Auf Parties, in Camps und Wohnkomplexen und am Rande von grossen Demonstrationen sind sie eine Bereicherung, schwierig hingegen bei Veranstaltungen, in denen bestimmte Frisuren zur Folklore gehoeren. Allerdings kann niemand sehen, was jemand beim Friseur hoert. Da die Basisfrage der Macht: 'Wer ist hier verantwortlich?' ungeduldig ist, besteht ein gut organisierter Radio-Friseur nur aus Wartenden und ist so kurzlebig wie die Frisur selbst. Deshalb ist haeufiges Aufsuchen notwendig. Schliesslich ist nichts unverdaechtiger als ein gepflegtes Aeusseres zu dem heutzutage auch ein Ohrhoerer gehoert, damit der Blick frei bleibt fuer das Wesentliche.

Digitale Politik

Jeder Vergleich hinkt, auch dieser. Digital ist nicht analog. Analoge Politik fragt nach der Herkunft, der Digitalen ist es einerlei. Der digitale Friseur beurteilt Menschen nicht nach der Frisur, was ihn ad absurdum fuehrt. Das hat aber Vorteile: Weniger Ethnik mehr Ethik. Analoge Politik kann dafuer widerspruechlich handeln und uebersteuern, digitale ueberlaedt sich und steigt aus. Was nicht weiter stoert, weil Politik immer auch das Handeln gegen ihre Bedingungen ist. Das ist ein feiner Unterschied zur Kunst, die trotzdem handelt. Mit der hat das politische Radio etwas gemeinsam: Es ist auch eine Art Draht Party. Denn wer sich vom Friseur kennt, kennt sich wirklich.

Florenz, Villa Romana, September 2000